Vor einiger Zeit zeigte ich Euch mit einer Reportage aus Indien, was ich bei meiner Arbeit als Journalistin schreibe: Artikel über Mädchen und Frauen in Entwicklungsländern, über ihren Kampf für ihre Rechte und über ihren Alltag. Die Reaktionen auf den Indientext waren so herzlich, dass ich mich entschlossen habe, Euch ab und zu weitere Einblicke in das Leben von Frauen und Kindern in den verschiedensten Ländern zu geben. Heute mit einer Reportage aus Nepal, wo es seit Jahrhunderten Tradition ist, die Töchter für eine Handvoll Geld in die Leibeigenschaft zu schicken – eine Form der Sklaverei. Ihnen wird die Chance auf Bildung genommen, die Chance auf Zukunft. Ich habe eine mutige junge Frau getroffen, die sich aus so einer Leibeigenschaft befreit hat und heute für die Rechte der Frauen und Mädchen in ihrem Land kämpft.

Bishnu in der traditionellen Festkleidung: Sie musste als junges Mädchen als Leibeigene arbeiten und engagiert sich heute für Mädchen- und Frauenrechte.
Sie ist 20 Jahre alt, frisch geschieden und sie strahlt übers ganze Gesicht: Bishnu Chaudhary ist stolz auf sich. Sie ist eine freie Frau und fühlt sich, als ob das ganze Leben vor ihr liegt. Sie hat ihr Studium wieder aufgenommen und bereitet sich auf ihren Bachelorabschluss vor. Im vergangenen Jahr erst war sie in München, um bei der Veranstaltung „United against Poverty“ anlässlich des G7-Gipfels auf die Situation in ihrem Heimatland aufmerksam zu machen.
Leibeigenschaft ist in Nepal offiziell seit 2000 verboten
Das ist keine Selbstverständlichkeit für eine junge Frau aus dem Süden Nepals. Als Kind musste Bishnu Chaudhary schon im Alter von sieben Jahren für umgerechnet 13 Euro im Jahr für einen Großgrundbesitzer arbeiten: Zwölf bis 14 Stunden am Tag feudelte sie den Fußboden, schnippelte Gemüse und kochte in der Küche oder kümmerte sich um die Wäsche ihrer Besitzer. Denn nichts anderes war es: eine Form von Sklaverei. Eine Jahrhunderte alte Tradition in Nepal, gegen die Bishnu heute mit anderen ehemaligen Kamalari-Mädchen ankämpft. Kamalari, hart arbeitendes Mädchen, so nennt man diese Art von Leibeigenschaft, die in Nepal offiziell seit 2000 verboten ist.

Viele Mädchen in Nepal müssen arbeiten und können die Schule nicht besuchen.
Bishnu ist eine starke junge Frau, die heute selbstbewusst für die Rechte der Frauen und Mädchen in ihrem Land eintritt. Doch wenn sie wortgewandt in Englisch von ihrer Kindheit erzählt, die Vergangenheit sie einholt, dann bricht ihre Stimme, wenn sie sich erinnert, wie ihre drei älteren Schwestern und sie auf dem gepachteten Stück Land ihrer Eltern, selbst ehemalige Zwangsarbeiter und Tagelöhner, helfen mussten. Ihr jüngerer Bruder durfte zur Schule – etwas, wovon Bishnu immer träumte. Doch immer, wenn sie ihren Vater darum bat, sagte er: „Du bist ein Mädchen, Mädchen heiraten und helfen im Haushalt. Sie müssen nicht zur Schule gehen. Das ist Verschwendung.“ Bishnu schaut auf ihre Hände: „Ich wollte nur einmal saubere Hände haben, eine saubere Schuluniform anziehen, etwas lernen. Mehr wollte ich doch gar nicht.“
Doch sie hoffte umsonst. Ihre Eltern kauften für einen kleinen Kredit eine einfache Hütte. Einige schlechte Ernten später konnte der Vater die Raten nicht mehr zahlen. Und so kam es, dass eines Tages, als Bishnu von der Feldarbeit kam, Männer mit einem Motorrad vor der Lehmhütte standen. Sie nahmen das Mädchen mit. Von nun an musste sie im Hause der Großgrundbesitzerfamilie arbeiten. Früh morgens, wenn es noch dunkel war, begann der Tag, und abends, wenn alle schon schliefen, war sie noch dabei, das Geschirr vom Abendessen zu waschen. Zufrieden war die Familie indes nie, zu Essen gab es das, was die Familie überließ, manchmal nur eine Handvoll Linsen, geschubst und drangsaliert wurde sie dafür fast täglich.
Bishnus Mutter, selbst eine Ex-Kamalari, wehrte sich dagegen, ihre Tochter fortzugeben. Erst das Versprechen, Bishnu könnte die Schule besuchen und nur nachmittags arbeiten, überzeugte sie. Bishnu wartete vergeblich auf den Schulanfang. „Ich habe dich gekauft, damit du arbeitest“, war alles, was der Großgrundbesitzer sagte, als sie sich nach einer Weile traute, nachzufragen.
Keine Bildung, keine Chance auf eine ZukunftZwei Jahre lang ging es so, zwei Jahre, in denen Bishnu viel weinte. Das änderte sich erst, als sie nach zwei Jahren ihre Familie beim Neujahrsfest wiedersah, wo Mitarbeiter der NGO Plan International ihre Eltern im Rahmen einer großen Kampagne überzeugten, ihre Tochter zur Schule statt zum Arbeiten zu schicken. Aber auch wenn Bishnu nicht mehr als Kamalari arbeiten musste, brauchte ihr Vater ihre Hilfe auf dem heimischen Feld. Bishnu lernte heimlich. Morgens verließ sie mit ihren Schwestern das Haus, die Bücher im Essensbündel versteckt, zog sich auf dem Feld heimlich die Schuluniform an und ging zum Unterricht. Zunächst wurde sie von Plan-Mitarbeitern in einer Übergangsschule vorbereitet. Bishnu lernte schnell, bald schon konnte sie in Klasse 5 einsteigen. „Damit mein Vater es nicht mitbekommt, habe ich nachts im Mondschein gelernt“, erinnert sich die 20-Jährige. Ihr Vater erfuhr davon erst, als sie von ihrem Schulleiter als Schulbeste gekürt wurde. Und er war stolz auf sie.
Von nun an war Schluss mit den Heimlichkeiten. Die zehnte Klasse schloss sie mit einem so guten Abschluss ab, wie ihn noch nie zuvor ein Mädchen in ihrer Region gemacht hatte, erzählt sie stolz. Sie arbeitete als Moderatorin eines Radiosenders. Sie engagierte sich in verschiedenen Gruppen gegen die Kamalari-Praxis, war als Vorstand in mehreren Gruppen aktiv, reiste für das Kinderhilfswerk Plan 2010 nach London, um dort einen internationalen Preis für das Projekt zur Abschaffung der Leibeigenen-Praxis entgegenzunehmen, 2012 führte ihr Engagement sie sogar nach Spanien. Neben all dem begann Bishnu ein Studium der Erziehungswissenschaften.
Bis eines Tages ein junger Mann bei ihren Eltern auftauchte und um Bishnus Hand anhielt. Arrangierte Ehen sind in Nepal die Normalität. Eine gute Partie, dachten Bishnus Eltern. Bishnu hatte ihre Zweifel. Doch ihr Zukünftiger lobte ihr Engagement, versprach: „Du kannst weiterstudieren und arbeiten.“ Sie stimmte der Heirat zu. „Ich dachte, ich könnte ihn lieben. Ich habe wirklich geglaubt, es könnte funktionieren“, sagt sie heute, zwei Jahre später. Sein wahres Gesicht zeigte ihr heutiger Ex-Mann schon kurz nach der Hochzeit: Er verbat ihr, zu arbeiten, zu studieren, sich für die Kamalari-Projekte zu engagieren. Sie musste zuhause bleiben, ihr Gesicht bedecken, wenn sie das Haus verließ. Er schlug sie, viermal musste sie ihre Verletzungen im Krankenhaus behandeln lassen. Sie zog sich zurück, wurde depressiv, wusste nicht mehr weiter. Dass Bishnu heute eine frisch geschiedene Frau ist, ist keine Selbstverständlichkeit. „Geschiedene Frauen sind in Nepal geächtet. Scheidungen sind gesellschaftlich nicht akzeptiert.“ Aber alles war besser, als weiter verheiratet zu sein.

Der Weg zur Gleichberechtigung ist für die Frauen in Nepal noch ein langer.
Noch liegt ein weiter Weg vor ihr
Und so steht sie heute selbstbewusst vor einem, nimmt die modische Hornbrille ab und lacht, wenn sie davon erzählt, dass sie kurz vor ihrem Bachelor steht. Ihre Prüfungen liegen vor ihr, wenn sie aus Deutschland zurückkommt. Nach ihrem Abschluss, will sie ein Jura-Studium in Kathmandu anschließen. Denn Bishnu will Anwältin werden, für die Rechte anderer Mädchen eintreten, für sie Scheidungen erkämpfen und die Kamalari-Praxis endgültig abschaffen.
Dass vor ihr ein langer Weg liegt, weiß sie. Nicht zuletzt hat das Erdbeben vor einem Jahr ihr Land ein großes Stück wieder zurückgeworfen. „Ich war in Kathmandu als die Erde bebte, habe Menschen sterben sehen, weinen sehen, Gebäude fallen sehen.“ Das Land sei zerstört, vieles, das auf einem guten Wege war, müsse von vorn begonnen werden. Ohne Unterstützung von außen ginge es nicht.
„Der Kampf gegen Kinderarbeit und die Diskriminierung von Frauen darf jetzt nicht stoppen.“

Bishnu ist stark und selbstbewusst: Sie will einmal als Anwältin für die Rechte von Frauen kämpfen.
Ich habe in Nepal viele junge Fraue getroffen, die mir von ihren Erfahrungen in der Leibeigenschaft erzählten. Sie alle überraschten mich mit ihrer Kraft, ihrem Mut – und Bishnu überraschte mich noch einmal mehr mit ihrem Willen, für die Rechte der Frauen zu kämpfen. Sie engagiert sich gegen eine jahrhundertealte Tradition, die es im Süden Nepals schon lange gibt: Mädchen im jungen Alter für wenige Rupienan wohlhabende Familien zu verkaufen. Die Mädchen (Kamalari=hart arbeitendes Mädchen) arbeiten teilweise bis zu 18 Stunden in den fremden Familien, haben keine Chance auf Schulbildung, Misshandlungen sind an der Tagesordnung. Eigentlich ist diese Art der Leibeigenschaft gesetzlich verboten, wird jedoch selten verfolgt.
Seit 2006 setzt sich das Kinderhilfswerk Plan International gemeinsam mit lokalen NGOs gegen die Kamalari-Praxis ein, befreit tausende Mädchen aus der Sklaverei, unterstützt sie mit Schulbildung oder Berufsausbildungen, klärt Eltern und Politiker auf, setzt sich für die Strafverfolgung ein und stärkt die Familien mit einkommensschaffenden Maßnahmen oder Mikrokrediten. Ein Anschlussprojekt soll den Mädchen nun auch über Stipendien zum Besuch einer Sekundarschule oder zu einem Bachelorstudium helfen.
Ich möchte Euch regelmäßig mitnehmen rund um die Welt und mit Reportagen, die von mir in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen (diese Nepalreportage erschien in einigen deutschen Tageszeitungen), zeigen, wie es uns Frauen in anderen Ländern der Welt geht, wie Kinder aufwachsen und was Frauen und Kindern rund um den Globus bewegt.
Kommt Ihr mit auf meine Reisen um die Welt? Ich würde mich freuen! Denn diese Themen liegen mir sehr am Herz.
Es ist eher selten, daß mir die Worte fehlen, nur wenn ich gerührt bin. Die emotionale Achterbahn zwischen den „10 Dingen, die mich auf die Palme bringen“ und dieser Reportage ist geschmiert mit lautem Lachen, Zustimmung, wiedererkennendem Verständnis, Wut, Traurigkeit und Dankbarkeit, daß ich uns ein sehr komfortables Leben ermöglichen kann. Ich finde mich in Dir und Bishnu wieder, als studierte Vollzeit arbeitende, geschiedene, allein erziehende Mama von 3 Kindern (4, 8 und 10). Wenn mir jemand sagt, daß er gar nicht weiß, wie ich das alles unter einen Hut bringe und mich für mein Leben – oder eben „nicht Leben“ bedauert, sage ich jedem, daß ich im Gegenteil sehr glücklich bin: wir alle sind gesund, haben satt zu essen, gehen zum Kindergarten, Grundschule und Gymnasium, Musikschule und Schwimmverein, haben ein Dach über dem Kopf, fließend warmes Wasser, keinen Krieg oder Zukunftsangst und dürfen selbstbestimmt handeln. Wir sind die Privilegierten, die auf der Sonnenseite mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden. Wir sollen dankbar dafür sein und unser Privileg dafür nutzen, daß die weniger glücklichen Unterstützung bekommen. Deswegen finde ich es stark, daß Du auf diesem „humorigen Blog“ auch die Geschichten von der anderen Seite der Welt erzählst, denn es könnten auch unsere sein, es ist nur Zufall, daß es anders herum kam. Bitte schreib weiter über diese Themen, zum Mut machen im Alltag und ebenso zum Aufklären über „ganznormalefrauenanjedemortderwelt“. Ganz lieben Dank von Peggy und den Terroristen. ..
Und ich danke Dir für deinen lieben Kommentar! Es tut gut, so eine Rückmeldung zu bekommen. Ich werde ungefähr einmal im Monat in die Welt hinaus blicken und freue mich, wenn du mir folgst!
Ich finde deinen Blick über den Tellerrand sehr gut und erfahre gerne mehr über die Welt. Danke für diesen interessanten und zugleich auch schockierenden Einblick.
Viele Grüße Tanja
Wow. Ich bin ebenfalls 20 und habe im nächsten Jahr hoffentlich meinen Bachelor. Aber wenn ich darüber nachdenke, wie unterschiedlich unsere Leben bisher verlaufen sind, verdient sie echt meinen größten Respekt!
Hier wird niemand verkauft und versklavt, niemandem wird verboten, zur Schule zu gehen und zu studieren. Und trotzdem beschweren sich so viele Menschen hier jeden Tag über alles mögliche. Irgendwie finde ich das traurig..
Ja, es macht einen wirklich traurig. Deshalb finde ich es so wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Danke für Deinen lieben Kommentar!
Wow, was für ein beeindruckender Artikel! Ist es in Ordnung für dich, wenn ich auf meinem Blog „Was ich noch erzählen wollte…“ darauf verlinke? Es ist echt so wichtig, regelmäßig über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich auch bewusst zu werden, wie gut man es selber hat. Und dann wenn man die Kapazität dafür hat, auch anderen zu helfen, die es weniger gut getroffen haben!
Vielen lieben Dank! Ich freue mich, wenn Du mich verlinkst. Diese Themen sind einfach zu wichtig! Ich habe lange überlegt, ob sie Platz auf diesem Blog haben, der ja doch eher lustig und humorvoll ist. Aber auch das ist eine Seite von mir und ich finde, uns Müttern sollte das Leben von Kindern in anderen Teilen der Erde nicht egal sein.
Das ist eine tolle Reihe, ich bin sehr gespannt!
Manchmal könnte man an dem ganzen Grauen unserer Welt verzweifeln…
Danke, Becky!!