Ein Kinderbuch zum Thema Wachkoma und Sterben: Interview und Lesetipp vom Herzen

*Werbung, Interview und Buchtipp*

Es gibt Themen, die man nicht unbedingt sofort mit einem Kinderbuch in Verbindung bringt. Das ist das Thema Tod, das aber so präsent in unserem Leben ist, dass es einfach auch in Kinderbüchern behandelt werden sollte. Um das Thema kindgerecht aufzubereiten, denn Geschichten können beim Erklären helfen, wo uns Erwachsenen manchmal die richtigen Worte fehlen. Aber das Thema Wachkoma, dieser Zustand, der sich dem Begreifbaren entzieht, das hätte ich mit einem Kinderbuch nicht wirklich in Verbindung gebracht. Jedenfalls nicht für jüngere Kinder – eher in einem Buch für Jugendliche. Aber das Buch „Als mein Bruder ein Wal wurde“ von Nina Weger hat mir gezeigt: Es kommt nur auf die richtige Herangehensweise, die richtige Geschichte an, um auch solche eher schwierigen Themen kindgerecht aufzubereiten. Ohne den Kindern Angst zu machen. Nina Weger ist ein trotz des schwierigen Themas hoffnungsvolles, ja, sogar stellenweise humorvolles Buch gelungen, zu dem sie mir einige Fragen beantwortet hat – auch zu dem generellen Thema „Kinder und der Umgang mit Tod“.

Nina, Dein Buch ist großartig! Mein Sohn und ich sind beide schwer begeistert und beeindruckt gleichermaßen. Aber Wachkoma ist ja nun kein typisches Thema für ein Kinderbuch. Und mein erster Gedanke war „harter Tobak“ – ich war mir nicht sicher, ob es schon etwas für meinen fast 8-Jährigen war. (ich wurde eines Besseren belehrt!). Wie kamst Du auf das Thema?

Erst einmal: Danke! Als Autor schaut man ja immer mit einem bangen Gefühl der Veröffentlichung entgegen. Wird die Geschichte verstanden? Wird sie angenommen? Und besonders freue mich natürlich, dass sie Deinem Sohn gefallen hat.  Der Anstoß war ein Spiegel-Artikel. In dem Bericht ging es um eine Mutter, die ihren im Wachkoma liegenden Sohn sterben lassen wollte. Der Pflegedienst hatte sie daraufhin verklagt, ihr wurde das Sorgerecht entzogen und das Kind weggenommen. Die Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. Was bedeutet es, über das Leben eines geliebten Menschen zu entscheiden? Ich habe dann einen Ordner angelegt und jahrelang Material zu dem Thema ‚Wachkoma’ gesammelt, aber es hat gedauert, bis ich meinen eigenen Zugang zu diesem Thema für eine Geschichte gefunden hatte.

Musstest Du Überzeugungsarbeit im Verlag leisten oder war man dort sofort Feuer und Flamme für das Thema?

Im ersten Moment herrschte, glaube ich, kurze Irritation: Wachkoma? Eine Geschichte über eine Familie, die aufgefordert wird, über Leben und Tod ihres Kindes zu entscheiden? Ich erklärte aber gleich, dass es eine Geschichte über das Leben, und nicht über den Tod werden sollte. Zum Glück haben meine Lektorin Christiane Laura Schultz, die damalige Programmleiterin Carina Mathern und ich großes Vertrauen zueinander. Und als ich meinen Ansatz und meine Motive erklärte, sagten sie sofort: Mach!

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„Eine offene Auseinandersetzung ist wichtig, Tabuisierung schafft nur Ängste“

Wieso ist es wichtig, das Thema Wachkoma, Tod, Entscheiden über das Leben und Sterben anderer auch oder gerade für Kinder aufzugreifen?

Der Tod ist Bestandteil des Lebens. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wird Kindern bewusst, das Leben endlich ist. Dann entstehen Fragen, Gedanken. Wer denkt, Kinder machen sich keine Gedanken um existentielle Fragen, ist naiv. Ich finde eine offene Auseinandersetzung wichtig. Tabuisierung schafft nur Ängste. Und Kinder haben ein Recht auf eine Suche nach Antworten – genauso wie Erwachsene.

Ich habe gemerkt, dass mein Sohn das schwierige Thema überraschend pragmatisch anging und betrachtete. Kinder haben da tatsächlich einen eigenen Zugang. Was hast Du für Erfahrungen mit Kindern gemacht, die das Buch gelesen haben oder allgemein Kindern, die Erfahrungen mit dem Thema Sterben gemacht haben?

Ich bin mit meinen Kindern – und auch mit meinen Kindern im Kinderzirkus – immer ganz offen mit dem Sterben und dem Tod umgegangen. Meine Kinder haben auch den Sterbensprozess ihren Urgroßeltern und einer Oma begleitet, sie haben den jeweiligen Leichnam gesehen und ganz in Ruhe Abschied genommen. Das hat sie weder verstört, noch irgendwelche Alpträume ausgelöst. Im Gegenteil. Wir hatten sehr besondere Gespräche und beide haben sich ihre Bilder gemacht. Tröstende, Hoffnung-machende.

Welche Erfahrungen hattest Du mit den Kinderzirkuskindern?

Vor Jahren verstarb eines unserer Kinderzirkuskinder. Am Abend vor der Beerdigung waren wir mit vielen Kindern in der Kirche, am offenen Sarg. Kein Kind fand das gruselig. Es hatte es beruhigendes, denn sie sahen, dass da etwas fehlte. Das war nicht mehr ihr Freund und Kumpel, da lag nur noch eine Hülle. Und wenn das nur eine Hülle war, dann war das, was ihren Freund ausmachte, irgendwo anders. Es gab also etwas, dass sich unserem Wissen, Sehen entzog. Was auch immer das war und wo es war. Und ganz abgesehen davon, waren die Kinder sehr zufrieden, dass ihr Freund seine Lieblingsbettwäsche mit dem Emblem seines Lieblings-Fußballvereins im Sarg hatte, und seinen Lieblingsteddy. Sie konnten am nächsten Tag ganz beruhigt den Sarg in die Erde entlassen. Sie hatten gesehen und gespürt, dass sich hier ein Kreislauf schloss. Allerdings tauchte auch die Frage auf, wie er hoch in den Himmel kommen sollte, ohne Leiter? Da entstanden dann sehr kreative, zum Teil komische Lösungen. Aber auch, dass man Lachen darf in tieftraurigen Situationen ist eine wertvolle Erfahrung. Anders ließe sich das Leben ja manchmal nicht ertragen.

In dem Buch gelingt es Dir sehr gut, die Gefühle und Gedanken der Protagonisten wiederzugeben, es ist sehr authentisch, kindgerecht und nicht gekünstelt oder aufgesetzt. Wie hast Du für das Buch recherchiert?

Ich habe mehrere Familien mit einem Kind im Wachkoma besucht. Ich habe Menschen getroffen, die ihr Kind nach vielen Jahren Wachkoma verloren haben, ohne noch einmal Kontakt aufnehmen zu können. Ich habe gelesen, Ärzte, Pfleger befragt. Es waren meine bisher emotional anstrengendsten Recherchen, denn man spricht ja nicht vier Stunden, geht dann und macht die Tür hinter sich zu. Es war sehr aufwühlend und bewegend und es wirft einen zurück zu den eigenen Fragen und Ängsten.

Und was den Ton, die Bilder und die Annäherungsversuche Belas und Marthas zum Thema betrifft, habe ich ja das große Glück, einen Kinderzirkus zu leiten. Ich bin ständig von Kindern in jedem Alter, aus unterschiedlichsten Familien, verschiedenster Nationalitäten umgeben. Meist treten die Kinder mit fünf, sechs Jahren in den Kinderzirkus ein und die meisten bleiben, bis sie in die Ausbildung oder ins Studium gehen. Sie werden mit mir groß und wir haben ein enges, vertrautes Verhältnis. Und dann muss ich einfach nur gut zuhören: Was bewegt die Kinder? Da wird dann einfach mal beim Kugeltraining, während man das Kind an den Händen hält, erzählt, dass Opa Krebs hat und vielleicht sterben wird. Sie erwarten von mir Ehrlichkeit und Offenheit. Schließlich wollen sie sich auf mich verlassen können – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich Hilfestellung leiste. Vieles entsteht beim aufmerksamen Zuhören im Alltag.

Nathalie Klüver, links, Nina Weger, rechts

Nina Weger hat mir viele Fragen beantwortet..

„Wie häufig entscheidet der Augenblick eines Wimpernschlages über das, was kommt?“

Was hast Du für Dich selbst aus Deinen Recherchen fürs Buch mitgenommen?

Im Leben gibt es immer wieder Momente der Bestandsaufnahme. Man justiert nach, legt Maßstäbe neu fest. Die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte hat Vieles noch einmal relativiert. Was ist wirklich wichtig? Über was muss ich mich aufregen? Und wie häufig entscheidet der Augenblick eines Wimpernschlages über das, was kommt? Während der Arbeit an dem Buch hat meine Tochter irgendwann einmal geschimpft: Wachkoma ist auch nicht der Maßstab für alles! Damit hat sie natürlich Recht, trotzdem hat es mir (wieder) bewusst gemacht, wie wenig in unserer Hand liegt. Die eigene Ohnmacht erschreckt, aber sie ist auch befreiend.

Ich hatte mit meinem Sohn eine kleine Diskussion, ob das Ende nun ein Happy End oder ein trauriges Ende ist und wir empfanden es am Ende eher als zuversichtlich. Was ist es für Dich, wie siehst Du das Ende?

Ich finde, es ist ein gutes Ende. Martha und Bela haben sich befreit, sie nehmen ihr Leben wieder in die Hand, sie haben die Entscheidungs- und Deutungshoheit zurück gewonnen und beschließen, glücklich zu sein und sich nicht von Trauer erdrücken zu lassen. Das Erkennen dieser möglichen Freiheit und die Akzeptanz, dass es Fragen ohne Antworten gibt, lassen sie zuversichtlich in die Zukunft blicken. Und was wünscht man sich mehr?

Lieben Dank für Deine offenen Worte, Nina! 

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Nina Heger ist ein wirklich lesenswertes Buch gelungen – und sie schafft es, das eher sperrige Thema mit sehr viel Leichtigkeit umzusetzen. „Als mein Bruder ein Wal wurde“ ist spannend, es ist gleichzeitig auch eine Art Road Movie als Buch: Der große Bruder von Bela, dem Ich-Erzähler, liegt nach einem Unfall im Wachkoma. Auf einmal ist nichts mehr wie es war und das ganze Leben dreht sich bald nur noch um die Frage: Wie geht man mit dem Zustand um? Darf man einen Menschen sterben lassen, wenn er im Wachkoma liegt und beispielsweise eine Lungenentzündung bekommt? Da der große Bruder keine Patientenverfügung hatte, liegt es an den Eltern, sich über solche Fragen Gedanken zu machen. Bela belastet diese Situation sehr und er macht sich mit seiner  Freundin Martha auf die Reise nach Rom – um dort jemanden zu fragen, der es wissen müsste: den Papst. Die Reise mit diversen Zügen ist detailreich geschildert, man fährt förmlich mit, gleichzeitig ist es unglaublich spannend, ob die beiden Kinder es schaffen werden, unentdeckt nach Rom zu reisen (denn natürlich lassen die Eltern sie suchen). Man fiebert mit  und wünscht ihnen so sehr eine Antwort. Die erhalten sie am Ende auch – aber so viel nehme ich vorweg: Es ist nicht einfach nur ein „ja“ oder „nein“.

Als mein Bruder ein Wal wurde“ ist ein einfühlsames, spannendes Buch, das ich Euch vom Herzen empfehlen möchte. Am besten Ihr lest es auch, um mit Euren Kindern darüber zu sprechen. Denn natürlich werden Fragen aufkommen. Und: Es ist ein Buch, dass auch für uns Große ein Leseerlebnis ist. Versprochen.

Für welches Alter ich „Als mein Bruder ein Wal wurde“ empfehlen würde? Das hängt vom Kind ab. Mein Sohn ist fast acht und in der 2. Klasse. Und eigentlich hätte ich vom Gefühl her gesagt: Er ist noch zu jung. Aber er hat die rund 250 Seiten verschlungen wie zuvor kein anderes Buch. Er war nachdenklich und hatte Redebedarf – aber keine Angst, keine negativen Gefühle, ganz im Gegenteil. Vom Gefühl her würde ich sagen, es richtet sich eher an Kinder ab 9 oder 10 Jahren, aber das hängt wirklich vom Kind ab. Erschienen ist das Buch im Oetinger Verlag, es kostet 14 Euro.

Ich hatte übrigens schon mal das Vergnügen, Nina Weger zu treffen – damals sprach ich mit Ihr über ihre Buchreihe „Club der Heldinnen“ (die mein Große übrigens auch liebt!), den Text könnt Ihr hier nachlesen.

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