Ist es in der Kindergartenzeit noch einfacher, sich als Eltern dem Förderdruck zu entziehen, kommt mit der Einschulung ein ganz neuer Druck von außen dazu: die Erwartungen der Lehrer. Auch wenn in den meisten Fällen die Schule spielerisch beginnt und es noch nicht mit Noten losgeht, schwebt über allem ein unausgesprochenes „in der vierten Klasse geht es um die Wurst“. Nämlich um die Empfehlung für die weiterführende Schule. Klar, dass Eltern das Bestmögliche für ihre Kinder wollen. Aber wieso ist heute ein „Befriedigend“ nicht mehr befriedigend? Und ein „Gut“ nicht mehr gut genug? Der Druck wird an die Schüler weitergegeben – oft schon im Vorschuljahr, wo die Kinder mit Vorschulheften die Buchstaben und Zahlen lernen, als wäre das Voraussetzung für die Einschulung. Es ist schwer, sich diesem Druck und dem damit verbundenen „Mein Kind kann schon“-Wettbewerb zu entziehen, denn wer möchte schon seinem Kind die Zukunft verbauen? Dabei ist es viel wichtiger, den Blick auf die Stärken der Kinder zu richten statt auf die Schwächen. Letzteres ist leider das, was in den Schulen seit eh und je praktiziert wird. Der Fokus richtet sich viel zu sehr auf das, was die Kinder nicht können, als darauf, sie in dem zu bestärken, wodrin sie gut sind. Wieso eigentlich?
Den Druck zu ertragen, fällt leichter, wenn man sich zurücklehnt und die Dinge mit etwas Abstand betrachtet. Natürlich sollen die Kinder im Unterricht mitkommen. Und die meisten Kinder müssen auch für Klassenarbeiten lernen. Aber wenn dazu noch übermäßiger Druck aus dem Elternhaus kommt, Nachhilfe, wo eigentlich keine nötig ist, Strafen für schlechte Noten und gezwungenes Lernen, damit aus einer Zwei eine Eins wird, dann schlägt Gutes in gut Gemeintes aber nicht Angebrachtes um. Wir Eltern sollten uns auch hier ein wenig frei machen von den Erwartungen, auch unseren eigenen.
Es spielt keine Rolle, ob ein Erstklässler vor den Herbstferien schon lesen kann oder nach den Weihnachtsferien oder erst am Ende der ersten Klasse, wie es der Lehrplan eigentlich vorsieht. Und nein, es spielt auch keine Rolle, ob er die Zahlen innerhalb eines Monats schreiben lernt oder erst innerhalb von acht Wochen.
Jedes Kind hat sein eigenes Tempo – und gerade im Grundschulalter ist die Spanne groß.
Grundschullehrer sind es gewohnt, auf diese Unterschiede Rücksicht zu nehmen und wissen, wie man sie auffängt und angleicht, Eltern dürfen da auch ein Stück weit vertrauen. Helfen und unterstützen ist immer gut – aber wenn das in ein Pauken unter Druck umschlägt, dann ist es Zeit, einen Gang zurückzuschalten. Das Kind wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. Kinder können nicht in ein Schema gepresst werden. Sie brauchen Zeit, Langsamkeit. Zeit, einen Schritt nach dem anderen zu machen statt alles gleichzeitig machen zu müssen.
Die Schule ist zu oft an den Schwächen der Schüler orientiert: Es werden die Fächer verstärkt geübt, in denen die Schüler eine schlechte Note haben. Es gibt Extrahausaufgaben oder Förderstunden, um schwache Noten zu verbessern. Eltern sollten als Gegenpol besonders die Stärken der Kinder hervorheben. Denn es sind ja grad die Fächer, in denen die Kinder gut sind, die ihnen besonders Spaß bringen. Diese Stärken sollten wir hervorheben und betonen und die Kinder unterstützen, das was sie interessiert und was sie gut können, noch tiefer zu verfolgen. Den Fokus nur auf die Schwächen zu setzen demotiviert. Natürlich ist es wichtig, von einer 5 in Mathe mit Lernen auf eine 4 zu kommen. Keine Frage. Aber der Fokus sollte nicht nur auf diesen Schwächen liegen. Denn jedes Kind hat Stärken! Auch Lehrer sind hier gefragt: Kann der Schüler mit der Lese-Rechtschreib-Schwäche besonders gut malen? Dann verleiht es ihm Selbstwertgefühl, wenn seine Bilder im Treppenhaus aufgehängt werden. Oder ist der schlechte Rechner ein begnadeter Sänger? Dann kann man ihn beim Schulfest auftreten lassen.
Jedes Kind kann etwas besonders gut
Bei allen Bemühungen, unsere Kinder so gut wie möglich aufs Leben vorzubereiten und für die Schule fit zu machen, sollten wir uns auch immer fragen: Was ist das eigentlich, eine besondere Begabung? Was wir darunter verstehen, hat sich nämlich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Tüftelnde Computerexperten wären vor 300 Jahren nicht gefragt gewesen. Und was galt bei den Steinzeitmenschen als begabt? Dieser Blick zeigt, wie relativ es ist, was wir als Begabung bezeichnen. Ist ein Kind, das besonders gut klettern kann, nicht genauso begabt wie eines, das gut rechnen kann? Dasselbe gilt für die sozialen Fähigkeiten: Wer sagt denn, dass das Talent anderen besonders gut und einfühlsam zuzuhören nicht genauso ein wichtiges Talent ist wie eine saubere Handschrift? Es ist an der Zeit, die eigenen Ansichten zu überdenken.
Wir können unsere Kinder nicht nach unseren Wünschen formen wie Töpferton. Nur weil wir gerne einen Atomphysiker als Sohn hätten, müssen wir unser Kind nicht auf Teufel komm’ raus Physik pauken lassen, wenn er doch viel lieber Pianist oder Journalist werden möchte. Denn am Ende sollte Eltern doch vor allem eines wichtig sein: dass die Kinder glücklich werden. Kinder sollten nicht zum Projekt werden, in der das wir alle unsere Energie stecken – denn, wenn Eltern sie zum Projekt machen, wird aus der Subjekt-Subjekt-Beziehung eine Subjekt-Objekt-Beziehung – wo das Kind das Objekt ist. Die Gefahr ist groß, dass sich Eltern über die Leistung ihrer Kinder definieren und diese zu „ihrem Projekt“ machen. Was wiederum die Gefahr mit sich bringt, dass auch die Kinder sich nur über diese Leistung definieren oder das Gefühl bekommen, nur wegen dieser Leistung geliebt zu werden.
Dies ist ein Auszug aus meinem aktuellen Buch „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Erziehung einfach unperfekt: Wie du deine Kinder entspannt beim Großwerden begleitest.“, in dem es darum geht, wie wir Eltern unseren Kindern ihr eigenes Tempo zugestehen und ihnen eine Kindheit ohne Druck und Stress ermöglichen. Denn so wie wir die Graswurzeln beschädigen, wenn wir an ihnen ziehen, beschädigen wir auch die Wurzeln unserer Kinder, wenn wir zu sehr an ihnen zerren.

Kennt Ihr auch meine anderen Bücher?
„Afterwork Familie: Wie du mit wenig Zeit dich und deine Familie glücklich machst.“
Die Kunst, keine perfekte Mutter zu sein: Das Selbsthilfebuch für gerade noch nicht ausgebrannte Mütter
„Willkommen Geschwisterchen: Entspannte Eltern und glückliche Kinder.“
Und mein Kinderbuch: Der Blaubeerwichtel
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