Gastbeitrag: Wenn die Mutter Alzheimer hat

„Oft fühle ich mich, als müsste ich mich zerteilen zwischen meiner Aufgabe als Tochter und meiner Aufgabe als Mutter“ sagt Peggy Elfmann, bei deren Mutter Alzheimer diagnostiziert wurde, als Peggys erstes Kind drei Jahre alt war und sie gerade über ein zweites Kind nachdachte. Das ist heute zehn Jahre her und ihre Mutter kommt mittlerweile ohne Pflege und Hilfe nicht mehr alleine durch den Tag. Wie ergeht es einer dreifachen Mutter mit so einer Doppelbelastung vom Muttersein und einer pflegebedürftigen Mutter? Dazu schreibt Peggy nicht nur regelmäßig auf ihrem Blog Alzheimerundwir, wo sie auch Kinderfragen beantwortet oder mit Experten spricht, sondern hat auch das Buch „Mamas Alzheimer und wir“ darüber veröffentlicht, das im September erscheint. Hier erzählt sie mir im Gastbeitrag, wie sie den Spagat meistert und wie es für ihre Töchter ist:

„Als meine Mama vor knapp zehn Jahren die Diagnose Alzheimer erhielt, war das ein großer Schock. Ich hatte große Angst um sie, weil ich nicht wusste, was diese Krankheit wirklich bedeutet. In meinem Kopf sah ich sofort das Bild, wie meine Mama einsam und verwirrt in einem Pflegeheim sitzt. Das wollte ich auf keinen Fall. Und genau wie für meinen Bruder auch, stand für mich von Anfang an fest, dass ich für sie da sein möchte. Damals hatte ich erst ein Kind. Meine Tochter war knapp drei Jahre alt und ich wünschte mir eigentlich ein zweites Kind. Mit der Alzheimer-Diagnose meiner Mama habe ich das stark angezweifelt. Durfte ich ein Kind bekommen, wenn absehbar war, dass meine Mama Betreuung und Pflege benötigen würde? Ich wusste nicht, wann, aber der Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung ist bekannt – und noch gibt es kein Medikament dagegen. Ich zweifelte daran, ob ich mich um zwei Kinder kümmern und eine Mutter mit Alzheimer pflegen kann.

Das macht mir immer wieder ein schlechtes Gewissen“

Heute habe ich drei Töchter zwischen fünf und zwölf Jahren – und meine Mama kommt ohne Hilfe und Pflege nicht alleine durch den Tag. Im Alltag ist es mein Papa, der für sie da ist. Denn ich wohne noch immer in München und meine Eltern in ihrem Dorf in Sachsen-Anhalt. Anfangs haben wir überlegt, ob wir an dieser Wohnsituation etwas ändern sollen und wollen. Aber meine Eltern hatten ihr Umfeld, ich meines – und der Alltag lief eigentlich ganz gut. Doch gerade in den vergangenen drei, vier Jahren nahmen die Aufgaben in der Betreuung und Pflege stetig zu. Aus der Ferne kann ich vielleicht einen Arzttermin koordinieren oder etwas im Internet über Pflegehilfsmittel recherchieren, aber im Pflege-Alltag kann ich nicht praktisch unterstützen. Das macht mir immer wieder ein schlechtes Gewissen.

Oft fühle ich mich, als müsste ich mich zerteilen zwischen meiner Aufgabe als Tochter und meiner Aufgabe als Mutter. Ich habe versucht, regelmäßig mit den Kindern zu meinen Eltern zu fahren – und dachte, dass das die beste Lösung sei, weil dann ja alle zusammen seien und das Kümmern leichter wäre. Und irgendwie hatte ich immer auch diese Bilderbuch-Idylle einer glücklichen Großfamilie im Kopf. Nun ja, meine Vorstellung war ein wenig naiv. Denn nicht nur meine Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse, sondern auch meine Mama. Ich erinnere mich, wie wir einen gemeinsamen Spielenachmittag machen wollten. Ich dachte, „Mensch-ärgere-dich-nicht“ wäre ein passendes Spiel, weil es einfach ist und meine Tochter schnell lernen würde und weil meine Mama es von früher kannte, weil wir es in meiner Kindheit häufig gespielt haben. Aber: Das, was ich mir da so schön und idyllisch vorgestellt hatte, funktionierte nicht. Meine Mama konnte weder würfeln noch ihre Figuren weitersehen. Meine Tochter kapierte blitzschnell, wie alles funktioniert und war irgendwann ziemlich genervt und ließ ihren Unmut offen aus. Sie rannte weg und meckerte, meine Mama saß betroffen auf der Couch. Denn auch, wenn sie nicht mehr spielen konnte, die negativen Gefühle hatte sie sehr wohl gespürt.

„Meine Kinder sind oft meine Vorbilder im Umgang mit der Demenz“

In diesem Moment fühlte ich mich zerrissen. Irgendwie brauchten mich doch beide, aber zu wem sollte ich gehen? Ich ging zu meiner Tochter. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht bei meiner Mama blieb. War es nicht auch meine Aufgabe als Tochter für meine Mama da zu sein? Aber im gleichen Moment entschied ich mich für meine Tochter. Wir sprachen nicht viel, aber es war dennoch wichtig bei ihr zu sein und für sie da zu sein. Ich wusste, dass meine Tochter nicht böswillig gehandelt hatte. Ich wusste, dass sie ein verständnisvolles, emphatisches Kind ist – und eigentlich nur das beste für die Oma möchte. Und ich wusste aus eigener Erfahrung, dass es im Umgang mit dem Alzheimer nicht immer klappt, geduldig und liebevoll zu sein.

In diesem Moment, als ich neben meiner Tochter saß, merkte ich, dass ich mir (und den anderen) mit dieser Spiele-Aktion vielleicht von vornherein viel Stress und Druck gemacht hatte. Dass ein Miteinander für Menschen mit Demenz gut und wichtig ist, aber dass man eben auch immer flexibel sein muss im Leben mit dieser Krankheit. Wenn ich ohne feste Erwartungen bin, klappt es meist am besten. Das habe ich von meinen Kindern gelernt. Sie sind oft meine Vorbilder im Umgang mit der Demenz, denn sie hinterfragen nicht so viel und trauern auch nicht der Person hinterher, die meine Mama mal war. Sie kommentieren die schwindenden Fähigkeiten und Fertigkeiten kaum. Sie schauen vor allem drauf, was die Oma kann und erzählen mir gerne, wenn sie lächelt oder etwas Schönes passiert ist. Wenn die Oma einen Satz sagt oder zur Musik schunkelt, das sind Momente, die die Kinder mit Freude kommentieren. Meine Töchter nehmen ihre Oma so wie sie ist und akzeptieren sie. Das tut gut zu sehen – und hat auch für mich immer wieder etwas Lehrendes.

Die Alzheimererkrankung hat mir gezeigt, wie wertvoll das Leben ist“

Mama mit Alzheimer und drei Kinder – wie ich mit diesen unterschiedlichen Bedürfnissen umgehe, da bin ich immer noch am Lernen. Ich weiß nicht, ob es die eine Lösung gibt. Denn schließlich ändern sich sowohl die Bedürfnisse meiner Kinder als auch meiner Mama. Meine Mama wird noch mehr Pflege benötigen, mein Papa vielleicht eines Tages mehr Unterstützung. Das macht mir manchmal Angst. Aber die Alzheimererkrankung hat mir auch geholfen, dem Leben mit mehr Demut zu begegnen. Mich auf das, was da geschieht einzulassen und offen zu bleiben.

Und es hat mir gezeigt, wie wertvoll das Leben ist. Ich habe viel über meine eigenen Grenzen gelernt. Egal, wieviel ich mich kümmere und was ich mache, die Krankheit wird weiter voranschreiten. Ich habe verstanden, dass ich sie nicht heilen kann. Aber dass ich ihr etwas Gutes tun kann: Häufig fahre ich alleine zu meinen Eltern, um ausschließlich für meine Mama da zu sein und nicht den Spagat zwischen meiner Rolle als Mutter und meiner Rolle als Tochter zu machen. In den Stunden und Tagen kann ich so für meine Mama da sein, wie ich es gerne möchte. Und dann wieder bei meinen Kindern sein, mit gutem Gewissen.

„Kinder großzuziehen und Menschen mit Alzheimer zu pflegen sind beides Dinge, die niemand alleine kann“

Was mir auch sehr geholfen hat: mit anderen darüber zu sprechen und für mich selber zu reflektieren. Das hilft mir, zu verstehen, dass ich es niemals erreichen werde, perfekt für jemanden da zu sein – nicht, weil das an mir liegt, sondern weil es nicht möglich ist. Und vielleicht ist das auch gar nicht meine Aufgabe? Kinder großzuziehen und einen Menschen mit Alzheimer zu pflegen – das sind beides Dinge, die niemand alleine kann. Dieses Dorf, von dem es immer heißt, Kinder bräuchten es, das wünsche ich mir, für mich, als Mutter, Tochter – und Mensch.“

Danke für Deine offenen Worte, liebe Peggy. Ich finde es beeindruckend, wie Du diese Mehrfachbelastung meisterst. Wenn ihr mehr von Peggy lesen wollt, dann schaut doch auf ihren Blog oder folgt ihr bei Instagram oder Facebook.

Mein neues Buch ist da! „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“.

Kennt Ihr auch  meine anderen Bücher?

 „Afterwork Familie: Wie du mit wenig Zeit dich und deine Familie glücklich machst.“
  Die Kunst, keine perfekte Mutter zu sein: Das Selbsthilfebuch für gerade noch nicht ausgebrannte Mütter 

Willkommen Geschwisterchen: Entspannte Eltern und glückliche Kinder.“

Und mein Kinderbuch: Der Blaubeerwichtel

Kennt Ihr eigentlich schon mein Kochbuch? „Das Familienkochbuch für nicht perfekte Mütter“ – dort findet Ihr mehr als 80 Rezepte – unkompliziert nachzukochen und zu backen!

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