(Auszug aus meinem Buch „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht„)
„Alleine!“, sagt mein Sohn und will von meinem Arm runter. Alleine, die steile Treppe? Die Stufen sind so schief und abgetreten, das Holz nass vom Regen und überhaupt, es geht ganz schön steil nach oben! Er hat doch gerade erst laufen gelernt, sagt mein banges Mutterherz. Am liebsten würde ich ihn tragen, ihn sicher bei mir haben. Andererseits: Wie soll er es lernen, wenn ich ihn immer trage? Seufzend stelle ich ihn hin und staune, wie selbstsicher er die Stufen zum Rutschturm hochsteigt. Noch wacklig und langsam, aber er kann es. Besser als ich dachte. Ich steige hinterher und halte meine Hände aus, ohne ihn zu berühren. Aber eigentlich braucht er das gar nicht. Er kann es und es wird von Mal zu Mal sicherer.
„Alleine!“, ruft meine Tochter und schüttelt meine Hand ab. Sie will alleine ihre Schuhe anziehen. Kämpft damit, ihren Fuß in den Schuh zu zwängen, startet dann den Zweikampf mit dem Klettverschluss, lässt sich aber nicht entmutigen, bis sie stolz vor mir steht. „Fertig!“ Okay, sie hat die Schuhe falsch herum angezogen – wieso machen das eigentlich alle Kinder so?! – aber sie hat es ganz alleine geschafft und strahlt übers ganze Gesicht.
„Alleine!“, sagt mein Sohn und schultert seinen Schulranzen. Er möchte alleine zur Schule laufen. Zum ersten Mal. 1000 Gedanken schießen durch meinen Kopf: Was, wenn ein Auto die rote Ampel übersieht? Was, wenn er von einem Fahrradfahrer gerammt wird? Was, wenn er angeschnackt wird? Was, wenn er sich verläuft? Und wird er überhaupt pünktlich kommen? Andererseits: Wir sind den Schulweg so oft gemeinsam gegangen. Ich habe ihn schon so oft vor gehen lassen und im Abstand beobachtet, wie er es macht. Er kann es. Also lasse ich es zu. Und stelle mich den Gedanken und Sorgen, die mich den ganzen Vormittag umtreiben, bis er endlich wieder vor der Tür steht. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, sichtlich um einige Zentimeter gewachsen: „Jetzt gehe ich immer alleine!“
„Sind die Kinder klein, müssen wir ihnen helfen, Wurzeln zu fassen. Sind sie aber groß geworden, müssen wir ihnen Flügel reichen.“ (indisches Sprichwort)
Am liebsten würden wir Eltern unsere Kinder behüten. Vor allem Bösen in der Welt. Ihnen alle Herausforderungen aus dem Weg räumen. Am liebsten würden wir sie von allen Problemen fernhalten, für sie einspringen, wenn es schwierig wird, sie auffangen, wenn sie zu hoch klettern, hinter ihnen stehen bei jedem Schritt, den sie laufen lernen. Es ist nur natürlich, dass Eltern ihre Kinder vor schlechten Erfahrungen bewahren möchten. Denn wer möchte sein Kind schon zweifeln oder gar an einer Herausforderung scheitern sehen? Aber auch wenn wir nur das Beste für unsere Kinder wollen, ist genau dieses Verhalten nicht das Beste für sie. Wir können nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Wir können nicht immer da sein, um unsere Kinder aufzufangen.
Genausowenig wie wir alle Hindernisse aus dem Weg räumen sollten, sollten wir unsere Kinder am Fehler machen hindern. Denn Fehler gehören zum Leben und Eltern sollten ihren Kindern zugestehen, Fehler zu machen. Das beste Beispiel sind Hausaufgaben: Wenn Eltern ihren Kindern immer die Hausaufgaben abnehmen, dann bekommen die Kinder zwar keine schlechte Hausaufgabennote – aber sie lernen auch nicht, die Aufgaben selbst zu erledigen. Vielleicht ersparen wir unseren Kindern eine unangenehme Situation, aber es macht stark, wenn man es aus eigener Kraft aus schwierigen Situationen herausschafft. „Aus Fehlern lernt man“ ist mehr als nur ein Sprichwort. Denn je öfter Eltern Kindern etwas abnehmen, umso mehr wird es zur Gewohnheit, die mit zunehmenden Alter immer schwieriger abzulegen ist. Oder will noch ernsthaft jemand einem Zehntklässler das vergessene Matheheft in die Schule hinterhertragen?
Balance zwischen Überbehütung und Freiheiten lassen
Die Balance zwischen Überbehütung und Freilassen zu finden, ist nicht immer einfach. Auf die eigene innere Stimme zu hören ist etwas, was Eltern erst lernen müssen. Wie viel Risiko nimmt man in Kauf? Ich habe gemerkt, dass ich bei jedem Kind mehr Risiko in Kauf genommen habe, auch weil ich es einfach besser einschätzen konnte. Es ist ein Lernprozess, durch den Eltern gehen. Bei meinen drei Kindern hat dieser Lernprozess zur Folge gehabt, dass der Zweitgeborene mutiger ist als der Erstgeborene – und die kleine Schwester noch einmal draufgängerischer als ihre großen Brüder. Hatte ich beim ersten Kind noch ständig den Gedanken im Hinterkopf, ihn vor jeglichen blauen Flecken und Verletzungen zu bewahren, hatte ich beim zweiten und dritten Kind gelernt, dass das gar nicht möglich ist. Und auch nicht nötig. Natürlich möchte keine Mutter ihr Kind vor Schmerzen weinen sehen – aber wir können nicht jedes aufgeschlagene Knie verhindern, es sei denn, wir nehmen unserem Kind ganz grundsätzliche Erfahrungen. Kinder müssen eigene Erfahrungen machen, eigene Grenzen kennenlernen und Ängste überwinden. Diese Erfahrungen stärken das Selbstbewusstsein und machen Kinder stark. Überbehütung macht unsicher und bequem.
Umgang mit negativen Gefühlen und Rückschlägen
Ebensowenig wie wir unseren Kindern Herausforderungen ersparen können, können wir unseren Kindern alle negativen Gefühle ersparen. Kinder müssen lernen, wie man mit Langeweile umgeht. Kinder müssen lernen, wie man mit Enttäuschungen umgeht. Kinder müssen lernen, wie man mit Misserfolg umgeht. Das alles gehört zum Leben dazu. Die Aufgabe von Eltern ist es nicht, diese negativen Gefühle von ihnen fernzuhalten, sondern sie dabei zu unterstützen, mit diesen Gefühlen umzugehen. Dabei hilft es zum Beispiel, diese Gefühle zu benennen. Das kann schon bei ganz kleinen Kindern geschehen, indem wir ihre Gefühle in Worte fassen: „Du bist jetzt enttäuscht, dass es kein Eis mehr gab.“ Oder beim Bilderbuchanschauen: „Schau mal, der kleine Junge ärgert sich, dass ihm das Mädchen das Pferd weggenommen hat.“ Wichtig ist dabei, dass wir negative Gefühle nicht schönreden. Sondern ernst nehmen und Empathie zeigen.
„Wir lieben dich so wie du bist, bedingungslos“: Diese Botschaft sollten Eltern an ihre Kinder aussenden. Kindern haben ein Recht darauf, ihre eigenen Gedanken und Gefühle zu leben. Sie sind keine Abziehbildchen, sondern Individuen mit ganz eigenen Empfindungen und eben deshalb sollten wir Eltern unsere Kinder nicht in Rollen pressen.“
Dies ist ein Auszug aus meinem neuen Buch „Das Kind wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Erziehung einfach unperfekt: Wie du deine Kinder entspannt beim Großwerden begleitest„, in dem es darum geht, wie wir unseren Kindern ihr eigenes Tempo lassen und einen eigenen Weg für unser Familienleben finden. Einen Einblick ins Inhaltsverzeichnis findet ihr hier – und bestellen könnt ihr das Buch überall, wo es Bücher gibt (sehr gerne bei eurem lokalen Buchhändler!) oder auch hier online oder, wenn ihr ein signiertes Exemplar möchtet, auch direkt bei mir, am besten per Email an nk@nathalie-kluever.de – ich freue mich!

Kennt Ihr auch meine anderen Bücher?
„Afterwork Familie: Wie du mit wenig Zeit dich und deine Familie glücklich machst.“
Die Kunst, keine perfekte Mutter zu sein: Das Selbsthilfebuch für gerade noch nicht ausgebrannte Mütter
„Willkommen Geschwisterchen: Entspannte Eltern und glückliche Kinder.“
Und mein Kinderbuch: Der Blaubeerwichtel
Kennt Ihr eigentlich schon mein Kochbuch? „Das Familienkochbuch für nicht perfekte Mütter“ – dort findet Ihr mehr als 80 Rezepte – unkompliziert nachzukochen und zu backen!
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Ich kann Dir nur zustimmen.
Dein Buch liest sich super leicht und macht bestimmt das Leben für viele Eltern und Kinder unbeschwerter ;) Wirklich schön! Auf das eigene Bauchgefühlgefühl zu hören und die Kinder einfach Kinder sein zu lassen,sind simple wie vergessene Richtschnüre. Und es sind vielleicht die einzigen Ratschläge, die Eltern ungefragt verteilen oder annehmen dürfen :)