Blick über den Tellerrand: Pekip in den Anden

Wie Ihr wisst, bin ich freie Journalistin und einer meiner Schwerpunkte sind Reportagen aus ferne Ländern. In unregelmäßigen Abständen zeige ich Euch, was ich eigentlich arbeite und wie Frauen und Kinder in anderen Teilen der Welt leben – einen kleinen Blick über den Tellerrand. Mit nach Indien habe ich Euch genommen, mit nach Nepal und Tansania. Heute möchte ich Euch mit in die Anden nehmen. In Peru habe ich mir nämlich Mutter-Kind-Kurse in angeschaut. Pekip in den Anden, ganz in der Nähe von Macchu Picchu. Und dennoch eine Gegend, in die sich Touristen nicht verirren. Die Lebensbedingungen sind hart in fast 4000 Meter Höhe. Doch mit diesen Babykursen konnte die Kindersterblichkeit gesenkt werden. Denn hier ist Pekip nicht nur dazu da, die Entwicklung der Babys zu fördern – die Müttertreffen bewegen weit mehr in dem Land, wo die Unterschiede zwischen Arm und Reich immens sind.

Müde? Ach was. Rosa hat Besseres zu tun.

Sie kann schon krabbeln. Immer wieder flitzt sie im Kreis um die Frauen herum, die auf dem Fußboden knien, die Beine unter den weiten Röcken, die Hüte mit den breiten Krempen hinter sich gelegt. Eine lächelt besonders stolz: Rosas Mutter. Sieben Monate ist das Mädchen und schon so weit!

Kinderförderkurse in den Anden in Peru

In 3800 Meter Höhe leben die Nachfahren der Inkas, die Quechua.

Während draußen die Sonne vom Himmel brennt und man ohne den breitkrempigen Hut abends selbst mit einem Quarkwickel nichts mehr retten könnte, ist es in dem fensterlosen Raum kühl. Zu kühl, um die Babys nackt auf den Teppichen herumkrabbeln zu lassen. Das geht nur im Sommer. Doch jetzt ist Winter und eine Heizung gibt es nicht. Nachts gefriert das Wasser in den Bächen, hier in 3800 Meter Höhe, in dem kleinen 250-Einwohner-Dorf. Drei Stunden von Cusco entfernt, unweit der berühmten Inka-Stadt Macchu Picchu, die so viele Touristen anzieht, dass man sich das Eintrittsticket drei Monate vorher kaufen muss.

Doch hier in dem abgelegenen Dorf gibt es keine Urlauber, keine Souvenirshops, kein fließendes Wasser und keine asphaltierten Straßen. Hier leben die Nachfahren der Erbauer von Macchu Picchu. In kleinen Lehmhäusern, die nur wenige Touristen zu sehen bekommen durch die Scheiben ihrer klimatisierten Reisebusse.

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Frühförderung für Babys in 3800 Meter Höhe

Zweimal die Woche treffen sich die Frauen mit ihren Babys im Gemeindezentrum. Sie halten ihnen Glöckchen vors Gesicht, kitzeln sie mit Federn oder massieren ihren Bauch in kreisförmigen Bewegungen. Sie singen von hopsenden Hasen und tauschen sich übers Stillen aus. Pekip, Babymassage, musikalische Früherziehung, Stillcafé? Das kommt einem als junge Mutter irgendwie vertraut vor.

Und ist für die Quechua, die Nachfahren der Inka, etwas völlig Neues.  Was bei uns quasi zur Eingangsvoraussetzung jeder Mütterlaufbahn gehört, war in den Anden ziemliches Neuland, als die Entwicklungshelfer von Plan International vor drei Jahren mit der Frühförderung begannen. Huchuy Wawa, Quechua „für kleines Kind“, sagen sie hier zu den Babytreffs.

Zenovia dachte, nach fünf Kindern wüsste sie schon alles. Sechs Kinder hat sie, aber mit keinem habe sie sich so intensiv beschäftigt wie mit Joni, sagt die 32-Jährige. Elf Monate ist ihre jüngste Tochter alt und versucht sich gerade am Glockenspiel, die Zunge konzentriert aus dem Mund geschoben. „Ich habe nicht gewusst, dass es so wichtig ist, mit den Kindern schon früh zu sprechen und ihnen die Welt zu zeigen.“

Quechua Anden

Zenovia trägt ihre Tochter Joni auf dem Rücken – so wie es hier in den Anden seit Jahrhunderten üblich ist.

Wie alle Mütter hier trägt sie ihre jüngste Tochter in einem Tragetuch auf den Rücken gebunden. Zum Stillen – das macht man hier bis zum zweiten Geburtstag und darüber hinaus – wird das Kind nach vorne geschoben und angedockt, egal, wo man gerade ist. Die Kinder laufen so mit im beschwerlichen Alltag, sind bei der Feldarbeit im Tragetuch dabei, beim Kochen und Ziegenfüttern auch, übernehmen früh eigene Aufgaben.

Die Babys verbringen fast den ganzen Tag auf dem Rücken der Mütter

Mutterschutz, Elterngeld? So etwas gibt es hier nicht! Die Feldarbeit, neben der Meerschweinchen- oder Lamazucht oft die einzige Einkommensquelle der Familien, wartet nicht. Und so verbringen die Kinder die ersten Monate fast den ganzen Tag auf dem Rücken der Mütter.

Mit Joni macht Zenovia nun alles anders und zeigt ein selbstgebautes Mobile aus Blättern, Stöcken und Wollfäden. Sie habe immer gedacht, sie könne sich kein Spielzeug für ihre Kinder leisten. Dabei muss Spielzeug gar nicht teuer sein, haben die Mütter in der Krabbelgruppe festgestellt. Die Natur bietet so viel, hier ein Stöckchen, dort ein Steinchen, dazu Alltagsgegenstände wie ein Rührlöffel und schon ist die Stabpuppe fertig, demonstriert Rosas Mutter.

Doch es geht nicht nur darum, die Sinne anzuregen. „Die Kinder lernen miteinander zu spielen, auf andere zu reagieren“, hat Wilma Huillca von Plan beobachtet. Die Mitarbeiterin des Kinderhilfswerks berichtet, dass die Kinder früher  Angst vor anderen Menschen hatten, heute jedoch viel offener sind. Das hat auch Zenovia festgestellt: „Joni ist viel wacher und neugieriger als meine anderen Kindern in dem Alter. Sie kann sich länger selbst beschäftigen, quengelt weniger und ist seltener krank“, zählt sie auf.

Cusco Anden Kinder

Elsa, die älteste Tochter von Zenovia freut sich, dass ihre Mutter sich mehr Zeit für die Kinder nimmt.

Es geht nicht nur um Frühförderung, sondern um viel mehr

Ist das nicht ein Luxusproblem, mag man fragen angesichts der Armut in diesen Dörfern, angesichts von zwölf Prozent Menschen, die weniger als einen Euro am Tag zum Leben haben und 21 von 1000 Kindern, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben (in Deutschland 4 von 1000)? Eine berechtigte Frage, sagt Plan-Mitarbeiterin Cristina Sevillano. Doch es gehe in diesen Kursen um viel mehr.

Sie zeigt auf die Plakate an den Wänden des Gemeindezentrums. Stilltechniken, die richtige Benutzung von Latrinen, Grundsätze von Hygiene, die Entwicklungsschritte eines Babys – ein Elternratgeber auf 30 Quadratmetern.  Da ist die Beikost, bei uns eine Wissenschaft für sich, für die Frauen in Canchanura früher nur selten ein Thema. Sobald die Kinder Zähne hatten, aßen sie mit den Erwachsenen.

Aufwachsen in Peru

Dass auch bei Milchzähnen gutes Zähneputzen wichtig ist, lernen die Frauen ebenfalls in den Kursen.

Heute machen die Mütter das anders, verzichten auf Salz und berücksichtigen all die Regeln, die man als Mama so lernt. Mais, Kartoffeln, Spinat: Zenovia zeigt eine Schüssel mit typischen Anden-Babybrei: „Wenn man die Schüssel umdreht und der Brei am Boden kleben bleibt, hat er die richtige Konsistenz.“ Pragmatisch.

Hygieneschulungen senken die Kindersterblichkeit

Bevor sie Joni von dem Brei füttert, wäscht sie sich die Hände mit einer Kanne abgekochtem Brunnenwasser. Auch das haben die Frauen gelernt: Hände waschen, Wasser abkochen, mehrmals täglich. „Seitdem ich mir vor dem Füttern die Hände wasche, hatte Joni kein einziges Mal Durchfall.“ Zenovia weiß, wovon sie spricht: Ihre Großen seien ständig krank gewesen.

Nach dem Spielen ist heute Messen und Wiegen an der Reihe. Rosa würde am liebsten aus der Waagschale hüpfen, aber schließlich ist auch ihr Gewicht notiert. Wenn man schon mal so gut wie alle Mütter des Dorfes versammelt hat, kann man das auch nutzen, um die Kinder zu wiegen und zu überprüfen: Kann es eine Glocke mit den Augen verfolgen? Greift es gezielt nach einer Rassel, dreht es sich?

 

U-Untersuchungen fährt einem unwillkürlich durch den Kopf. Ja natürlich, das ist die einfachste Art, die Kinder in ihrer Entwicklung zu beobachten, hier in den Bergen, wo die nächste Gesundheitsstation drei Stunden Fußmarsch entfernt liegt.

„Durch diese Untersuchungen haben wir festgestellt, dass wir die Zahl der unterernährten Kinder deutlich senken konnten“, sagt Entwicklungshelferin Cristina. Als Plan das Projekt aufnahm, waren noch 65 Prozent der Kinder unterernährt, 2011 ein Viertel. „Das heißt aber, dass immer noch jedes vierte Kinder falsch oder zu wenig isst“, erinnert Cristina. Das Ziel ist klar: die Zahl auf null zu senken.

Pekip in den Anden

Durch das Projekt von Plan International soll die Kindersterblichkeit gesenkt werden.

Joni rollt sich auf dem Schoß ihrer Mutter zusammen. Zenovia wischt ihr zärtlich die Mundwinkel ab. Zum Kurs überredet werden musste keine der Frauen – einmal Zeit für sich und das Kind haben, sich mit Gleichgesinnten über den Mütteralltag austauschen, darauf hatten sie sofort Lust, erzählt Zenovia.

Nicht bei allen stößt die Krabbelgruppe auf Verständnis

Aber nicht bei jedem stößt der Müttertreff auf Verständnis, sagt sie nach einer kurzen Pause. Vor allem die älteren Frauen finden das Ganze merkwürdig. „Überflüssiger Schnickschnack. Früher haben wir die Kinder doch auch den ganzen Tag auf dem Rücken gehabt und es hat keinem geschadet“, machen die Frauen grinsend nach, was eigentlich jede schon gehört hat. Ihr seid doch auch groß geworden ohne Massage und Glöckchen bimmeln!

Die Großmütter seien am Schlimmsten, sagen die jungen Frauen. Besonders die Mütter der Väter. „Du verwöhnst deine Kinder“, muss sich auch Zenovia von ihrer Schwiegermutter anhören. Kommt der geneigten Besucherin aus Deutschland irgendwie bekannt vor. Zenovias Schwiegermutter hat zwar mittlerweile eingestanden, dass es Spaß macht mit einem Baby zu spielen und Joni große Entwicklungsschritte macht – aber so ganz weggeblasen sind ihre Zweifel nicht: „Sie schüttelt immer noch den Kopf über mich.“ Zenovia lässt sich davon nicht beeindrucken und geht nun auch ganz anders auf ihre Großen ein.

Kunsthandwerk in den Anden

An diesem Webstuhl weben die Frauen ihre bunten Tragetücher.

Kinder, die früh Liebe und Beachtung erfahren, werden zu starken Kindern, ist nicht nur Wilma Huillca überzeugt. Das Programm zeige den Eltern, dass ihre Kinder eigenständige Persönlichkeiten mit eigenen Rechten sind – selbst als hilfloses Baby.

Hilfe zur Selbsthilfe – ganz praktisch

Nun soll der Staat stärker in die Arbeit einbezogen werden. Zunächst auf Gemeindeebene. Gesundheitsstationen und Krankenschwestern soll das Messen und Wiegen übertragen werden. In kleinen Schritten. Plan setzt bei seiner Arbeit auf Ehrenamtliche und bildet Mütter aus den Dörfern aus, selbst eine Pekip-Gruppe zu leiten, einen Stilltreff zu organisieren oder andere über Beikost zu informieren. Hilfe zur Selbsthilfe, praktisch umgesetzt.

Zenovia und Joni sind wieder auf dem Weg nach Hause, die Meerschweinchen sind hungrig, die Familie sowieso. Ihre weiß gekalkte Lehmhütte mit den zwei Räumen sieht man schon weitem. Sie thront über dem Tal. Der Weg führt bergauf.

Nathalie Klüver Journalistin Peru

Unweit der alten Inkaruinen bei Cusco, die ich auch besuchte, wohnen die heutigen Nachfahren der Inka, die Quechua.

Ich hoffe, mein Blick über den Tellerrand gefällt Euch? Dann schaut doch auch mal mit mir nach Tansania, Nepal oder Indien – ich freue mich!

8 Kommentare zu “Blick über den Tellerrand: Pekip in den Anden

  1. Ein toller Text! Ich würde sehr gerne mehr davon lesen. Das mag ich so an Deinem Blog – dass es nicht nur schöne lustige Geschichten sind, sondern dass Du uns mehr zeigst von der Welt.

  2. Danke für den spannenden Einblick in das Leben anderer Mütter aus einer fremden Kultur, denen man sich dank Deines Berichtes sehr verbunden fühlen kann, klasse :-)

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