Gastbeitrag: Wochenbettdepression in Corona-Zeiten

Diese Zeiten sind für uns alle nicht einfach – und die Herausforderungen sind enorm. Meine Gastautorin schreibt heute über ihre Wochenbettdepressionen in der Corona-Pandemie. Ein emotionaler, nachdenklich machender Text, für den ich ihr sehr danke! Lest selbst:

( Triggerwarnung: Im Folgenden geht es um Depressionen, Angststörungen und Panikattacken. Wenn dich diese Themen triggern, lies den Text lieber nicht oder nicht alleine. Hilfsangebote findest Du im Infokasten am Ende des Textes.)

„Ein Tag im September 2019, 04:00 Uhr in der Nacht

Ich stehe müde, hilflos und zitternd neben dem Bett meines vier Monate alten Sohnes. Er brüllt vor Hunger. Ich bereite bereits die dritte Milchflasche vor, habe die zweite Packung Milchpulver geöffnet. Die ersten habe ich weggekippt, weil ich mir sicher war, sie bakteriell verunreinigt zu haben. Auch bei dieser Flasche zögere ich: Hat das Wasser lange genug gekocht, war der Löffel sauber, meine Hände gewaschen? Er schreit immer lauter, ich traue mich nicht, ihm die Flasche zu geben und wecke stattdessen meinen Mann, der für mich übernimmt.

Es gab zahllose solcher Szenen, nachdem mein zweiter Sohn geboren wurde, und als ich eines Nachmittags nach einer Panikattacke zusammengesunken und am Ende meiner Kräfte im Kinderzimmer saß, wurde mir klar, ich habe ein ernsthaftes Problem. Mehrere Termine und Gespräche später hatte es einen Namen: Wochenbettdepression mit Angst- und Panikstörungen. Es folgt ein sechswöchiger Aufenthalt in einer psychiatrischen Mutter-Kind-Tagesklinik und eine weiterführende Therapie. Ende 2019 wurde ich entlassen. Hatte Methoden an der Hand, um meine Ängste im Keim zu ersticken, und gelernt, mir wieder selbst zu vertrauen. Ich war stabil und hatte ein Netz errichtet, dass mich in schlimmen Momenten auffangen würde: Therapeuten, Familie, Freunde, eine Haushaltshilfe.

Und dann kam Corona. Für alle von uns stellt die aktuelle Situation eine enorme psychische Belastung dar: Unsere sozialen Netze brechen weg, die Doppelbelastung von Job und Kinderbetreuung erreicht mit geschlossenen Kitas und Homeschooling ungeahnte Dimensionen und die Angst vor der Krankheit und/oder den Auswirkungen ist allgegenwärtig. Wie viele andere psychisch kranke Menschen stehe ich dazu vor einem weiteren Problem: Unsere Strategien, mit der Krankheit zurechtzukommen, funktionieren plötzlich nicht mehr, Hilfsangebote wurden eingeschränkt und Symptome können sich verschlimmern.

Meine Ängste dreh(t)en sich hauptsächlich darum, meinem Kind durch Unachtsamkeit zu schaden: die Milch verderben, es im Bett falsch lagern, eine ernsthafte Krankheit übersehen usw. Ich wollte alles perfekt machen. Ein Anspruch, an dem ich zerbrochen bin. Und nun gab es diese neue, unbekannte Gefahr, niemand wusste, wie man sich richtig verhalten sollte. Eine Katastrophe für mich. Jeden Abend lag ich weinend im Bett aus Angst vor dem, was uns bevorstand. Erdrückt vor der Verantwortung, meine Familie vor dieser Gefahr schützen zu müssen. Ich habe in der Therapie gelernt, meine Akkus nicht vollständig zu entladen, auf mich zu achten, im Alltag Hilfe zu holen und mir Auszeiten zu gönnen. Alls das hilft mir, in kritischen Momenten einen Schritt zurückzutreten, durchzuatmen und nicht vor lauter Stress in alte Muster zu verfallen.

Plötzlich durfte aber der Große nicht mehr in den Kindergarten, wir sollten niemanden mehr sehen, vor allem nicht Opa und Oma. Was im ersten Lockdown noch machbar war (mein Mann hatte einen Monat Elternzeit und auch ich musste noch nicht arbeiten), hat mir im Dezember dann den Boden unter den Füßen weggezogen: Ich bin selbstständig und hatte einige wenige Projekte angenommen, um die Auftraggeber nicht zu verlieren. Anfangs dachte ich, es wäre möglich, an den Wochenende zu arbeiten, am Abend und während der Kleine Mittagsschlaf macht. Aber ich musste schnell einsehen, dass meine Energie dafür (noch?) nicht reicht. Auch über ein Jahr nach der akuten Depression muss ich permanent darauf achten, genügend Ruhe und Auszeiten zu bekommen. Als das nicht der Fall war, kamen die Panikattacken wieder, wurde ich aggressiv und weinerlich, begannen psychosomatische Symptome aufzuploppen. Schweren Herzens habe ich mich deshalb gemeinsam mit meinem Mann dafür entschieden, die Notbetreuung für zwei Vormittage in Anspruch zu nehmen.

Jede/r hat ein bestimmtes Maß an Energie zur Verfügung und wir dürfen uns nicht immer mit dem vergleichen, was andere (vermeintlich) schaffen. Das ist in jeder meiner Therapiestunden Thema. Und dennoch kann ich es nicht lassen, trifft es mich im Innersten, wenn ich die Kommentare lese, die aktuell durch die sozialen Medien geistern, wenn es um die Inanspruchnahme der Notbetreuung geht: „Warum haben sie denn Kinder bekommen, wenn sie sich nicht darum kümmern wollen?“ „Warum bringt die denn ihr Kind, die kann sich die Arbeit doch einteilen?“ „Dann muss man sich eben zusammenreißen, das ist doch unverantwortlich.“ „Die ist doch in Elternzeit. Die kann doch die großen Kinder auch zu Hause betreuen.“ Usw. Wir waren im vergangenen Jahr übervorsichtig, auch aufgrund meiner Ängste und einer chronischen Erkrankung, die im Zuge der Depression wieder ausgebrochen ist. Haben uns maximal eingeschränkt und wie alle leiden wir selbst und unsere Kinder unter der Isolation. Jetzt habe ich beschlossen, die Notbetreuung in Anspruch zu nehmen, weil ich in „seelischer Not“ bin – und habe trotzdem das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen.

Ich bin in der Lage, diesen Text zu schreiben, weil ich die akute Phase der Depression überwunden habe. Aber vielen neue Mütter stecken mittendrin. Sie können keine Selbsthilfegruppen vor Ort besuchen, die ambulanten Angebote sind nur noch beschränkt geöffnet, es ist nicht mehr möglich, dass Familie und Freunde im Alltag unterstützen. Sie sind allein mit ihrer Verzweiflung. Und so geht es vielen psychisch (und physisch) Kranken, Erwachsenen wie Kindern.

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Deshalb habe ich drei Bitten:

1. Urteilt nicht über andere. Ihr wisst nicht, warum sie bestimmte Leistungen in Anspruch nehmen und sich vielleicht über die ein oder andere Regel hinwegsetzen. (Und damit meine ich nicht irgendwelche Corona-Partys, sondern, dass die Oma eben doch mal einspringt.) Not ist nicht immer von außen sichtbar.

2. Schaut genau hin, wie es euren Freunden und Familienmitgliedern geht. Wenn ihr den Verdacht habt, dass die Traurigkeit über das aktuell leider normale Maß hinausgeht, scheut euch nicht, Hilfe anzubieten, wenn ihr die Ressourcen dafür habt. Mir hat es schon geholfen, dass mein Mann einige Anrufe für mich übernommen hat.

3. Wenn ihr selbst betroffen seid: Sucht euch Hilfe! Psychische Krankheiten sind eben genau das: Krankheiten. Und es gibt Menschen, die euch da raus helfen können. Wir dürfen das Virus nicht ignorieren, wir müssen alles dafür tun, dass wir es in den Griff bekommen – aber wir dürfen auch uns selbst und einander nicht aus den Augen verlieren. Das hier ist kein Wettkampf, wer es am besten aushält, oder am elegantesten meistert, wer sich am vorbildlichsten an die Regeln hält oder die beste Lockdown-Bespaßung organisiert, wer die meisten Homeschooling-Aufgaben erledigt oder die lustigsten Videokonferenzen plant. Passt gut auf euch und eure Liebsten auf. Das wünsche ich mir.

Mir ist bewusst, dass ich trotz allem in einer sehr privilegierten Situation bin. Wir haben keine finanziellen Sorgen, die Möglichkeit der Notbetreuung besteht, ich habe einen Therapieplatz, keinen lieben Menschen an das Virus verloren und einen Mann, der mich unterstützt. Ich möchte niemanden ausschließen und niemandem seine Sorgen absprechen. Wir alle haben unser Päckchen zu tragen und das Leid, die Trauer, die Sorgen, die Angst und der Schmerz von uns allen sind real und haben ihre Berechtigung. Dieser Text handelt von meiner Situation und ist aus meinem, sicher begrenzten Blickwinkel geschrieben. Ich hatte Skrupel, ob ich es wagen soll, diesen so persönlichen Text in die Weiten des Internets zu entlassen. Aber das Thema liegt mir so am Herzen, dass ich es wage. Danke Nathalie, für die Plattform.“

… Und ich danke Dir für Deine Worte und Deine Offenheit! Ich finde es wichtig, dass auf diesem Blog möglichst viele Aspekte des Mutterseins gezeigt werden – und gebe gerne möglichst vielen Müttern, auch anonym, eine Plattform, um anderen zu zeigen „Ihr seid nicht allein“. Denn das Wissen ist so wichtig: Zu wissen, dass man nicht alleine ist. Lasst uns alle zumindest virtuell zusammenrücken und uns gegenseitig unterstützen.

INFOKASTEN Wochenbettdepressionen treffen etwa 10 bis 20 % aller Mütter (und über 4% der Väter!) Und haben verschiedene Ursachen, wie beispielsweise ein überhöhtes gesellschaftliches Idealbild der „Mutter“, den abrupten Rollenwechsel, frühere depressive Erkrankungen, einen starken Abfall der Sexualhormone nach der Geburt, hohe Hormonsensibilität, Schreibabys, ambivalente Gefühle hinsichtlich der Mutterrolle, Schlafmangel, genetische Veranlagung, Geburtstraumata und viele andere. Manche Mütter können ihre Kinder aufgrund der Depression nicht annehmen, andere entwickeln Angststörungen oder Zwänge. Einige der zahlreichen Symptome sind Erschöpfung, Traurigkeit, Schuldgefühle, innere Leere, Schlafstörungen bis hin zu Suizidgedanken. Therapiert wird die Wochenbettdepression in der Regel mit Medikamenten und einer Therapie, in Akutfällen kann ein Klinikaufenthalt helfen. Die schwerste und seltenste Form ist die postpartale Psychose, die mit manischen und depressiven Phasen einhergeht sowie extremen Angstzuständen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Weitere Informationen zum Krankheitsbild, einen Selbsttest und vor allem Hilfsangebote findest Du unter https://schatten-und-licht.de/ Wenn Du vermutest, betroffen zu sein, wende Dich an eine der dort genannten Stellen, an Deine Hebamme, Deine/n Gynäkolog*in, die/den Haus*ärztin oder bitte eine vertraute Person um Unterstützung. Die Nummern der Telefonseelsorge sind 0800-1110111 oder 0800-1110222 (anonym, kostenlos, rund um die Uhr). Der ärztliche Bereitschaftsdienst unter der 116 117 ist auch für psychiatrische Anliegen da! DISCLAIMER: Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Beratung!!!

Tipps für Auszeiten und Burnout-Prävention gibt es in meinem Buch: „Die Kunst, keine perfekte Mutter zu sein„.

Kennt Ihr eigentlich schon mein Kochbuch? „Das Familienkochbuch für nicht perfekte Mütter“ – dort findet Ihr mehr als 80 Rezepte – unkompliziert nachzukochen und zu backen!

Kennt Ihr auch  meine anderen Bücher?

 „Afterwork Familie: Wie du mit wenig Zeit dich und deine Familie glücklich machst.“
  Die Kunst, keine perfekte Mutter zu sein: Das Selbsthilfebuch für gerade noch nicht ausgebrannte Mütter 

Willkommen Geschwisterchen: Entspannte Eltern und glückliche Kinder.“

Und mein Kinderbuch: Der Blaubeerwichtel

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